Der Kampf um die ideologische Balance im Supreme Court: Implikationen einer wahrscheinlichen Nachbesetzung am höchsten Gericht der USA
von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.: (Lesezeit: ca. 5 Minuten)
Bei den US-Präsidentschaftswahlen wird häufig auf ein „unerwartetes Ereignis“ gewartet, das die Wahlen beeinflussen könnte – Wirbelstürme und andere Naturkatastrophen wie bei den Zwischenwahlen 2018 oder auch die Veröffentlichung von belastendem Material kurz vor den Präsidentschaftswahlen wie im Fall von Hillary Clintons Emails 2016 sind hierfür nur einige von vielen Beispielen. Nun ist ein Ereignis eingetreten, dass nicht völlig unerwartet kommt, den Wahlen aber dennoch eine andere Richtung zu geben vermag. Bereits im Juni des Jahres war bekannt geworden, dass die Verfassungsrichterin am Obersten Gerichtshof Ruth Bader Ginsburg schwer an Krebs erkrankt war. Die 87-jährige war im Verlauf ihres Lebens schon häufiger mit einer Krebs-Diagnose konfrontiert worden und sie war auch dieses Mal entschlossen zu kämpfen und als Richterin ihr Amt weiter auszuüben, in der Hoffnung, dass ihre Nachfolge keinesfalls im Kontext eines Wahljahres entschieden werden würde. Nun ist die langjährige, liberale Verfassungsrichterin am 18. September verstorben. Die damit einhergehende Vakanz im Obersten Gerichtshof, gibt Präsident Trump die Chance, noch vor den Wahlen im November einen neuen Richter bzw. eine Richterin zu berufen – die dritte Besetzung während seiner Amtszeit. Trump hat die Chance nur kurze Zeit nach dem Bekanntwerden der Nachricht vom Tode Ginsburgs ergriffen und angekündigt, dass er die Besetzung unverzüglich vorantreiben werde. Diese Situation gleicht in vielerlei Hinsicht einem ersehnte Befreiungsschlag für Trump: Angesichts immer noch niedriger Zustimmungswerte insbesondere in umkämpften Bundesstaaten und der bedrückenden Covid-19-Situation kann er so zum einen seine Anhängerschaft mobilisieren und potentiell weitere Wähler/innen im konservativen und religiösen Spektrum hinzugewinnen. Zum anderen kann er im Wahlkampf mit der Aussicht auf richtungsweisende Entscheidungen des Obersten Gerichtshof unter konservativer Prägung von schwierigen Themen leichter ablenken – wie etwa von dem schreckliche Verlauf der Pandemie, aufgrund derer bislang 200.000 Menschen in den USA gestorben und Millionen arbeitslos geworden sind.
Die neun Richter/innen am Obersten Gerichtshof werden jeweils auf Lebenszeit berufen und Ruth Bader Ginsburg galt als Verfechterin der liberalen Grundwerte in den USA, nachdem sie im August 1993 von Präsident Bill Clinton nominiert worden von einer überwältigen Mehrheit von 93 zu 3 im Senat bestätigt worden war. Bei den Entscheidungen der letzten Jahre hatte es häufig eine 5:4 Abstimmung gegeben und es wurden so auch gesellschaftspolitisch weitreichende Beschlüsse wie die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare möglich. In die Trauer über den Tod von Ginsburg mischt sich nun die Sorge, dass die Trump-Administration einen weiteren Richterposten mit einer konservativen Person besetzen und so die Mehrheitsverhältnisse nachhaltig kippen könnte, nachdem er bereits zwei Richter – Neil Gorsuch (2017) und Brett Kavanaugh (2018) – gegen den starken Widerstand der Demokraten berufen konnte. Mit der Berufung eines weiteren Richters oder einer Richterin der konservativen Rechtsauslegung würde sich die Mehrheit in Obersten Gericht zu ihren Gunsten verschieben. Zwar sollen die Richter unabhängig und nicht politisch gebunden sein, aber wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, hat sich im Prozess der Supreme Court Besetzung zunehmend durchgesetzt, der jeweiligen Administration „genehme“ Personen vorzuschlagen und deren Berufung im Senat durchzusetzen. Dabei spielt in gewisser Hinsicht das Zufallsprinzip, d. h. das unvorhergesehene Ausscheiden von den auf Lebenszeit benannten Richtern und Richterinnen während der Amtszeit der Präsidenten und die korrespondieren Mehrheit im Senat die entscheidende Rolle bei der Wiederbesetzung.
Sollte es der Trump-Administration gelingen, noch vor Januar 2021, d. h. bevor eine neue Regierung ihr Amt antritt, einen weiteren Richter oder eine weitere Richterin zu benennen – und derzeit sieht es so aus, als würde es ihm aufgrund der republikanischen Mehrheit im Senat und der geschlossenen „Einheitsfront“ der republikanischen Senatoren gelingen – hätte dies weitreichende Folgen für zentrale politische und gesellschaftliche Themen sowie für die Präsidentschaftswahl selbst. Nur zwei republikanische Senatorinnen, Susan Collins aus Maine und Lisa Murkowski aus Alaska haben bislang erklärt, dass sie an der bisherigen Linie der Republikaner festhalten wollen, Berufungen zum Obersten Gericht nicht während eines Wahljahres durchzuführen. Auf dieser Tradition beharrend blockierte der republikanische Mehrheitsführer Mitch McConnell noch 2016 eine Nachbesetzung des verstorbenen Verfassungsrichters Antonin Scalia im letzten Jahr der Obama-Administration.
Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Senat, wo die Republikaner aktuell 53 von 100 Stimmen halten, wären vier Stimmen nötig, die von der Parteilinie abweichen, um eine Berufung zu verhindern. Danach sieht es im Moment jedoch nicht aus, sodass Trump sehr wahrscheinlich mit seinem Vorhaben Erfolg haben wird. Nachdem Trump erklärt hat, er würde eine Frau als Oberste Richterin ernennen – auf seiner Vorschlagsliste ganz oben stehen zwei erst in jüngerer Zeit ins Amt berufene Richterinnen, Amy Coney Barrett aus Illinois und Barbara Lagoa aus Florida – scheint sich die Unterstützung zu verfestigen. Einige Trump-Kritiker haben unterdessen erklärt, dass sie den Vorschlag von Trump unterstützen, allen voran Mitt Romney, dessen Gegnerschaft zu Trump seinen konservativen religiösen Überzeugungen unterlag. Die Stoßrichtung der Republikaner lässt sich etwas überspitzt nach Aussagen eines republikanischen Parteistrategen wohl so zusammenfassen: “God created Republicans to do three things, and really only three things: cut taxes, kill foreign enemies and confirm right-facing judges … Only confirming judges has the potential to unite socially conservative populists and squishy corporatists with equal enthusiasm.”
Welche politischen, sozialen und juristischen Folgen hätte die Verschiebung der Stimmenverhältnisse im Obersten Gerichtshof der USA durch eine Ernennung von Präsident Trump? Hier ist zuallererst die Gesundheitspolitik bzw. das Krankenversicherungssystem zu nennen. Der Kampf um den Affordable Care Act von 2010 („Obamacare“) wird vor dem Obersten Gerichtshof ausgetragen werden nachdem die Trump-Administration 2017 mit einem eigenen Gesetzentwurf gescheitert war und Texas nun gegen eine zentrale Säule des ACA (dem sogenannten individual mandate) klagt. Mit der Steuergesetzgebung von 2018 hatte die Trump-Administration bereits eine Regelung durchgesetzt, nach der steuerliche Gebühren im Fall einer Nichtversicherung auf Null gesetzt wurden. Ein zentraler Anreiz sich über den ACA versichern zu lassen, war damit ausgehebelt. Texas argumentiert nun in der erwähnten Klage (California v. Texas), dass die allgemeine Krankenversicherung unter dem ACA insgesamt verfassungswidrig sei. Dagegen argumentiert der Bundesstaat Kalifornien, dass der ACA nach wie vor von der Verfassung gedeckt sei. Noch im August 2020 legte der Oberste Gerichtshof fest, dass die Anhörung der Klage am 10. November 2020 erfolgen soll, eine Woche nach der Präsidentschaftswahl. Dieses Datum war ursprünglich gewählt worden, um die Entscheidung aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Nun, so scheint es, kann das ACA-Gesetz zum Brennpunkt im Wahlkampf werden, da Gesundheitspolitik traditionell ein dominantes Thema im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ist.
Das Thema Gesundheitspolitik ist aber gerade auch durch die Pandemie besonders in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gerückt, da deutlich wird, wo noch erhebliche Lücken in dem Versicherunschutz bestehen. Mit der Gesundheitsreform während der Obama-Administration ging die hohe Zahl der Nicht-Versicherten von fast 50 Millionen langsam zurück auf 27,5 Millionen (2018). Auch durfte niemand aufgrund einer Vorerkrankung von dieser staatlichen Versicherung ausgeschlossen werden. Das Gesetz hat daher, trotz einiger administrativer und steuerungstechnischer Mängel, bei der Bevölkerung Unterstützung erfahren, denn die Regelungen der Gesundheitsreform von Obama hatten Millionen von Menschen Zugang zu einer bezahlbaren Versicherung geboten. Trotzdem war sie den Republikanern seit ihrer Einführung ein besonderer Dorn im Auge. Einer Gallup-Umfrage zufolge bleibt die öffentliche Meinung entlang der Parteilinien gespalten, da 52% der Befragten für die Aufrechterhaltung des ACA und 47% dagegen sind. Donald Trump hatte in seinem Wahlkampf 2016 die Abschaffung von Obamacare angekündigt und die Reform als „sozialistisch“ bezeichnet. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im November könnte das Gesetz also jetzt tatsächlich kippen.
Aber noch andere Themen werden durch die Neubesetzung des obersten Richterpostens berührt. So könnte die Frage des Zugangs zum legalen Schwangerschaftsabbruch, der insbesondere von konservativen und religiösen Aktivisten/innen immer wieder in Frage gestellt und angegriffen wird, wieder vor dem Obersten Gericht verhandelt werden. Auch die Rechtmäßigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe, die der Oberste Gerichtshof noch 2015 bestätigt hatte, könnte auf den Prüfstand gestellt werden, ebenso wie die rechtliche Stellung der als Kinder illegal in die USA eingewanderten Personen, die mit der DACA-Regelung (Deferred Action for Childhood Arrivals) jetzt legal in den USA leben können. Noch im Sommer 2020 hatte das Oberste Gericht das von der Trump-Administration erlassene Dekret zur Deportation als unrechtmäßig und überzogen zurückgewiesen. Sollte sich die Trump-Administration mit der raschen Berufung einer Richterin noch vor der Präsidentschaftswahl durchsetzen, so könnte diese Entwicklung schließlich auch den Ausgang der Wahl bestimmen, nämlich dann, wenn der Oberste Gerichtshof im Fall einer Anfechtung des Wahlergebnisses letztlich – wie bereits im Jahr 2000 – über Streitfragen, die den Ausgang in die eine oder andere Richtung kippen könnten, urteilen muss. An anderer Stelle auf diesem Blog (vgl. Gastbeitrag VII) wurde bereits deutlich, dass von einem vollends reibungslosen Ablauf der Wahl durch den zu erwartenden Ansturm der per Post verschickten Wahlscheine nicht auszugehen ist.
Bereits jetzt überlagert die politische Auseinandersetzung um die Nachfolge von Ruth Bader Ginsburg den Präsidentschaftswahlkampf. Diese Aussicht mobilisiert sowohl Anhänger wie Gegner Donald Trumps. Während seine Anhänger über die Aussicht einer festen konservativen Mehrheit mit den entsprechenden Perspektiven für umstrittene gesellschaftspolitische Fragen elektrisiert sind, unterstreichen die Gegner einer raschen Besetzung die weitreichenden und gesellschaftspolitisch bedenklichen Folgen der Revision grundlegender Entscheidungen. Befürworter einer ruhigeren Gangart bei der Besetzung argumentieren außerdem damit, dass es dem neuen Präsidenten überlassen sein sollte, den neuen Richter/die neue Richterin zu berufen. Dem Ansehen des Obersten Gerichts würde dies sicher nicht schaden und käme zugleich dem letzten Wunsch von Ruth Bader Ginsburg nach – einer Ikone der Rechtsprechung in den USA.