Update – Der aktuelle Stand des Kampfes um das Weiße Haus
von Prof. Dr. Christiane Lemke und Jakob Wiedekind, M.A.: (Lesezeit: ca. 8 Minuten)
Ein Wahljahr, das in so vielerlei Hinsicht ungewöhnlich ist, erlebte zuletzt zahlreiche Wendungen und neue Entwicklungen, die den Ausgang der Wahlen offen erscheinen lassen. Die erste, recht chaotische TV-Debatte zwischen Donald Trump und seinem demokratischen Herausforderer war kaum vorbei, da wurde wenig später bekannt, dass sich der Amtsinhaber mit dem Coronavirus infiziert hatte. Trumps besonders unvorsichtiger Umgang mit dem Virus holte ihn also schließlich ein und der Empfang im Rosengarten des Weißen Hauses anlässlich der Nominierung von Amy Coney Barrett als konservative Kandidatin für die Nachfolge der verstorbenen liberalen Richterinnenikone Ruth Bader Ginsburg (vgl. Blog-Beitrag XVI) wurde gar zu einem Super-Spreader Event. Wenig später, am 7. Oktober, fand die erste und einzige Debatte zwischen den Kandidierenden für das Vizepräsidentschaftsamt statt. Kamala Harris als demokratische Herausforderin und Mike Pence als amtierender Vizepräsident unter Donald Trump saßen sich getrennt von einer Plexiglasscheibe und mit ausreichend Abstand gegenüber und boten eine Diskussion, die weitaus zivilisierter verlief als die Debatte zwischen Trump und Biden. Die für den 15. Oktober geplante zweite Debatte zwischen Trump und Biden fand nicht statt, da nicht endgültig bestimmt werden konnte, ob Trump und sein näheres Umfeld noch ansteckend sind. Stattdessen präsentierten sich beide Kandidaten in parallel stattfindenden, aber von unterschiedlichen Sendern ausgerichteten Bürgerfragestunden – in gewisser Hinsicht sinnbildlich für ein gespaltenes Land. Die letzte Fernsehdebatte findet nun am 22. Oktober statt, allerdings wird das Mikrofon des Kandidaten, der nicht spricht, abgeschaltet werden, um gegenseitige Unterbrechungen möglichst einzuhegen. Laut den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) sind in den USA außerdem inzwischen fast 220 Tausend Menschen an den Folgen der Covid-19-Erkrankung gestorben; allein am 17. Oktober hatten sich weit über 50 Tausend Menschen neu mit dem Coronavirus infiziert und in vielen Bundesstaaten ist diese Zahl weiter gestiegen. Von einem nahen Ende der Pandemie ist daher nicht auszugehen. Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen drängt sich im Anschluss an unseren Blog vom 19.06., der Umfragewerte und ihre Entwicklungen im Zeitverlauf thematisierte, folgende Frage auf: Wie steht es nun mit nur noch 14 Tagen bis zur Wahl um den Kampf um das Weiße Haus? Damals wie heute deutet Vieles auf einen Vorteil für Biden hin, aber Trumps Unterstützung innerhalb seiner eingeschworenen Kernwählerschaft hält das Rennen weiter offen.
Im ersten Schritt betrachten wir die Ergebnisse der Befragung von registrierten Wählern/innen durch YouGov zwischen April und Oktober dieses Jahrs. Die Befragung von bereits registrierten Wählern/innen reduziert die Gefahr, dass die Ergebnisse durch Personen, die schlussendlich nicht wählen gehen, verfälscht werden. Darüber hinaus wurde in Darstellung 1 darauf geachtet, dass mindestens eintausend registrierte Wähler/innen befragt wurden, um durch eine relativ konstante Fallzahl mit möglichst repräsentativen Resultaten arbeiten zu können. Ab Anfang April wurde zunehmend klar, dass Joe Biden der Kandidat der Demokraten werden würde, was mit dem Rückzug seines letzten parteiinternen Kontrahenten Bernie Sanders am 08.04.20 weitgehend besiegelt wurde.
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten von YouGov (exemplarischer Link für die Umfrageergebnisse vom 11. Juni, S. 218) entnommen aus der Übersicht auf FiveThirtyEight.
Darstellung 1 zeigt deutlich, dass Joe Biden in den Umfragen klar und über die Zeit konstant vor Donald Trump liegt – abgesehen von einer Schwächephase Mitte September. Eine weitere Kernbotschaft der Darstellung ist, dass es dem Amtsinhaber seit Ende Mai nicht gelingen konnte, mehr als 43% der Befragten von sich zu überzeugen. Das lässt vermuten, dass er in gewisser Hinsicht das Limit seines Mobilisierungspotenzials erreicht hat, während seine Konstanz im Zeitverlauf andeutet, dass ihm seine eingeschworene Kernwählerschaft durch alle Turbulenzen hindurch die Treue hält. Joe Biden hingegen dürfte die Tatsache, dass selbst die Aussicht auf eine dritte konservative Nominierung für den Supreme Court keinerlei Vorteile in den Umfragen für Trump brachte, als Anlass für Zuversicht wahrnehmen. Die nationale Entwicklung der Umfrageergebnisse zeigt insgesamt, dass Joe Biden vor Donald Trump liegt. Allerdings lohnt sich ein Blick auf entscheidende Swing-States, vor dem Hintergrund, dass der Ausgang in die eine oder die andere Richtung von den Ergebnissen in Bundesstaaten wie Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, Florida und Ohio abhängen wird. Zur Erinnerung: Die Mehrzahl der Stimmen genügt nicht zum Sieg. Es müssen mindestens 270 Stimmen im electoral college durch Siege in einzelnen Bundesstaaten erreicht werden, um die Wahl zu gewinnen. Mit Blick auf die Wahlnacht ist hier zu erwähnen, dass ein Sieg von Biden in Ohio oder auch in Florida sehr wahrscheinlich das Ende von Trumps Präsidentschaft bedeuten wird. Dies sind Bundesstaaten, die Trump wie schon 2016 zwingend für eine zweite Amtszeit gewinnen muss.
Quelle: Florida: Emerson College-Umfrage vom 11.10.; Michigan: Siena College/New York Times-Umfrage vom 11.10. Ohio: Quinnipiac University-Umfrage vom 12.10. Pennsylvania: Quinnipiac University-Umfrage vom 7.10. Wisconsin: YouGov-Umfrage vom 16.10. Alle Umfragen befragten mindestens 600 Wählern/innen, die von sich sagen wahrscheinlich wählen zu gehen.
Aus Darstellung 2 geht klar hervor, dass Joe Biden in den umkämpften Bundesstaaten einen Vorteil besitzt, selbst wenn man eine Fehlerquote von drei Prozent zugrunde legt. Lediglich in Ohio ist das Umfrageergebnis sehr knapp; auch in Florida ist der Vorsprung von Biden knapper als in den anderen Swing States. Pennsylvania und Michigan zeigen eine klare Tendenz zugunsten von Biden, weshalb es am 3. November wahlentscheidend sein dürfte, ob sich diese Tendenz in tatsächliches Wahlverhalten umsetzt. In Wisconsin, Florida und Ohio scheint das Rennen noch zu eng zu sein, um aus den Umfragen mehr als nur eine tendenzielle Momentaufnahme zu lesen. In Summe zeigen die Ergebnisse jedoch einen recht klaren Vorteil für Biden an. In Florida dürfte insbesondere die hispanische Minderheit einen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Wahl haben, weshalb wir sie an anderer Stelle auf diesem Blog bereits als heterogene Wahlgruppe in den USA genauer betrachtet haben (vgl. Blog-Beitrag XIII).
Der Fokus bei den Präsidentschaftswahlen liegt natürlich auf dem amtierenden Präsidenten und seinem Herausforderer, aber auch die Frage nach der Vizepräsidentschaft hat eine große Bedeutung für das aktuelle Wahljahr sowie für die Zukunft der beiden Parteien über 2020 hinaus. Wie das Beispiel Joe Biden bereits zeigt, ist das Vizepräsidentschaftsamt nicht selten ein Sprungbrett für eine eigene Bewerbung auf das höchste politische Amt der USA, ein Aspekt, der angesichts des Alters beider Präsidentschaftskandidaten von Bedeutung ist. Da zur Frage der Vizepräsidentschaft weit weniger Umfrageergebnisse unter registrierten Wählern/innen vorliegen und weil Kamala Harris erst Mitte August als Kandidatin feststand, muss hier auf eine Darstellung von Umfrageergebnissen im Zeitverlauf verzichtet werden. Dennoch deutet die Distanz zwischen Harris und Pence an, dass Joe Biden eine durchaus interessante Kandidatin gewählt hat. Eine Umfrage der University of Massachusetts Lowell unter wahrscheinlichen Wählern/innen vom 12. Oktober fand heraus, dass 50% der über 800 Befragten Kamala Harris und nur 41% Mike Pence als Präsident/in präferieren würden. Dass die Ergebnisse den nationalen Trend der Umfragen zu Biden und Trump sehr ähnlich sind lässt vermuten, dass der Kampf um die Vizepräsidentschaft keine weitreichenden Verschiebungen der beiden Lager hervorgerufen hat. Allerdings könnte die Nominierung von Kamala Harris für Joe Bidens Mobilisierungspotenzial unter ethnischen Minderheiten von Vorteil sein und seine Stärke bei den afro-amerikanischen Wählern/innen zementieren.
Insgesamt tritt Joe Biden als Favorit auf den Wahlsieg aus den Umfragen hervor, was für Trump mit nur noch 14 Tagen bis zur Wahl schwierig umzukehren sein wird. Die Website FiveThirtyEight kalkuliert eine Erfolgschance von 87% für Joe Biden, was zwar einen Sieg von Trump in keiner Weise ausschließt, einen Ausgang zugunsten des Amtsinhabers aber unwahrscheinlich macht. Natürlich mögen sich einige Leser/innen an 2016 erinnert fühlen, als Trump unter ähnlich schlechten Vorzeichen überraschend gewinnen konnte. Das Wahljahr 2020 sah jedoch in der heftigen Kritik an Trumps Management der Corona-Pandemie und den landesweiten Anti-Rassismus-Protesten Entwicklungen, die eher gegen den Amtsinhaber mobilisieren. Die Demokraten können hier eher punkten, als die Republikaner; dagegen ist das traditionelle Thema der Republikaner, die wirtschaftspolitische Kompetenz, in diesem Jahr durch die immer noch hohen Arbeitslosenzahlen und die Betriebsschließungen aufgrund der Pandemie überschattet; allein das Haushaltsdefizit verdreifachte sich aufgrund der staatlichen Hilfen in der Coronakrise. Trump kann sich zudem kaum noch als politischer Newcomer und Herausforderer des politischen Establishments inszenieren, da er selbst nun seit fast vier Jahren in der Verantwortung steht und viele der Probleme, die die Menschen vor der Wahl bewegen, mit verursacht hat. Vor allem gilt dies für die Krankenversicherung, die Trump immer wieder angegriffen hat. So könnte sich auch die ungewöhnlich rasch durchgeführte Nominierung der Richterin Amy Coney Barrett und die damit ausgelöste Befürchtung, die konservative Mehrheit im Obersten Gericht könne die Gesundheitsreform Obamas mitten in der Pandemie im November kippen, für die Republikaner als Pyrrussieg im Präsidentschaftswahlkampf erweisen.
Im Erscheinungsbild könnten die beiden Kandidaten im Wahlkampf der letzten zwei Wochen vor der Wahl nicht unterschiedlicher sein: Während sich Joe Biden als elder statesman mit Erfahrung und Vernunft präsentiert, der den Wahlkampf unter Berücksichtigung der Corona-Pandemie mit Augenmaß und Abstand führt, setzt Donald Trump unbeirrt auf seine bewährten Wahlkampfmethoden mit einer Mischung aus emotional aufpeitschenden Reden vor größeren Zuschauermengen, blumigen Versprechen und zweckgebundener Siegerlaune.
Für den Ausgang der Wahl wird nicht zuletzt die Wahlbeteiligung ausschlaggebend sein, gerade in den Swing States. Aus den bereits laufenden Frühwahlen (early voting) und den Briefwahlen kann auf eine außerordentlich hohe Wahlbeteiligung geschlossen werden. Da aufgrund der Coronavirus-Pandemie erheblich mehr Menschen per Post wählen werden, ist es wahrscheinlich, dass das offizielle Ergebnis durch die aufwendige Auszählung der Briefwahlunterlagen in diesem Wahljahr länger auf sich warten lassen wird. Bei einem eindeutigen, hohen Ergebnis wäre die Tendenz schon in der Wahlnacht sichtbar; bei einem knappen Ausgang darf sich jedoch eher auf eine Wahl-Woche als auf eine Wahlnacht eingestellt werden.